„Rechtschreibschwäche? Ich dachte, er sei hochbegabt?“

 

Eltern mehrfach auβergewöhnlicher Kinder haben diesen oder ähnliche Sprüche vielleicht schon gehört. Häufig stoβen sie auf Unverständnis und Unwissen, was das Können und die Besonderheiten ihrer Kinder angeht. Nur Einser im Zeugnis, gut organisiert und vielseitig engagiert – das klassische Bild des hochbegabten Kindes hält sich eisern. Dass es nicht immer so glatt läuft, davon können die Eltern ein Lied singen. Zu einerseits verblüffenden Leistungen und einem unbändigen Wissensdurst, gesellen sich mitunter Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwierigkeiten und Selbstzweifel.

 

Treten bei hochbegabten Menschen zeitgleich eine Lernschwäche oder -störung, Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Störungen oder eine AD(H)S auf, so spricht man von mehrfach auβergewöhnlichen Personen (im Englischen ‚twice-exceptional‘ oder ‚2e‘). Sie stellen uns gleich im doppelten Sinne vor groβe Herausforderungen. Beide Seiten müssen rechtzeitig erkannt und gefördert werden, sonst kann es schnell zu Schwierigkeiten in Schule, Freizeit und Familie kommen. Ängste und ein zerstörtes Selbstbewusstsein sind häufig die Folge.

 

Auch ohne Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten weisen hochbegabte Kinder häufig eine asynchrone Entwicklung auf. In Teilbereichen sind sie ihren Altersgenossen weit voraus, während sie in anderen Bereichen ein altersgemäβes oder auch rückständiges Verhalten an den Tag legen. So wie beispielsweise der 7-jährige, der am Esstisch mit beeindruckender Reife über ein gesellschaftliches Phänomen diskutiert und sich im nächsten Moment mit dem kleineren Bruder handgreiflich und lautstark um die gröβere Portion Nachtisch streitet. Oder die 5-jährige, die flieβend lesen kann und die ersten Gedichte verfasst, aber sie wegen noch fehlender Auge-Hand-Koordination nicht selbst aufschreiben kann. Schon in einem solchen Fall ist es nicht immer einfach, das geeignete Lernumfeld oder Schulsystem zu finden. Treten nun zusätzlich eine Lernschwäche oder Störung auf, wird die Situation noch schwieriger. 

 

Es ist nicht leicht, mehrfach auβergewöhnliche Menschen zu erkennen und entsprechend zu fordern und fördern, denn häufig kommt es zu einem der drei Szenarien.

 

a) Das Talent der Person dominiert und maskiert so deren Schwäche. In einem solchen Fall wird oft erst zu spät oder gar nicht mit Interventionen und/oder Förderung begonnen. Bei auftretenden Schwierigkeiten in Schule oder Beruf werden diese Personen häufig als Underachiever bezeichnet – Personen, deren Leistungen unter deren eigentlichem Potential zurückbleiben. Ihnen wird meist Faulheit oder mangelnde Lernbereitschaft unterstellt. Eine mögliche Lernschwäche oder eine Aufmerksamkeitsdefizit - Hyperaktivitäts - Störung dagegen werden selten in Betracht gezogen. Durch die ausbleibende Förderung und Unterstützung bezüglich der Lernschwäche, werden die Defizite weiter verstärkt und man kann sich leicht ausmalen, welche Folgen das für die Betroffenen hat.

 

b) Des Weiteren können die Defizite die Stärken eines Menschen verdecken, so dass die besondere Begabung einer Person nicht erkannt wird. Auch hier sind die Folgen verheerend. Der Blick wird ausschlieβlich auf die Schwächen gelenkt und die Person auf ihre Defizite reduziert.  Man kann sich gut vorstellen, was dies mit dem Selbstbewusstsein und dem Selbstwertgefühl eines solchen Menschen macht. 

 

c) Die dritte Möglichkeit ist das sich gegenseitige Aufwiegen von Talent und Schwäche, so dass eine Person als ‚durchschnittlich‘ gilt.

 

Vielen Eltern, Lehrern, Erziehern und Ärzten ist das Phänomen ‚Twice-Exceptionality‘ nicht bekannt und es fehlt an entsprechender Information, Aufklärung und Weiterbildung. Dies verschärft die sowieso schon schwierige Situation für alle Beteiligten nur noch mehr und die Schwierigkeiten, den betroffenen Kindern zu Hause und in der Schule gerecht zu werden, liegen auf der Hand. Doch als verantwortungsvolle Eltern, Ärzte, Lehrer und Erzieher können wir den Kindern auf ihrem ohnehin schon steinigen Weg helfen. 

 

Generell gilt: Um ihr volles Potential ausschöpfen zu können, müssen die Schwächen und die Stärken des Kinder berücksichtigt werden. Zusätzlich spielen Lernstile, Vorlieben und Interessen eine entscheidende Rolle. Wichtig ist auch ein gelungenes Zusammenspiel von therapeutischen und schulischen Maβnahmen, die den akademischen Erfolg wie auch das emotionale Wohlergehen der Kinder fördern und unterstützen. Erst durch die ganzheitliche Betrachtung des Kindes ist es möglich, ein Lernumfeld zu generieren, das die Stärken der Kinder fördert und gleichzeitig ihren besonderen Lernbedürfnissen gerecht wird (eine ganzheitliche Sichtweise käme letztendlich allen Schülern und Schülerinnen zugute). 

 

Fragen Sie immer wieder nach oder beobachten Sie das Kind: welche Interessen hat es? Hat es Möglichkeiten, diesen Interessen nachzugehen? Was kann es gut und vielleicht sogar besser als andere Kinder? Bestärken Sie es darin immer wieder und lenken Sie mehr und mehr den Blick auf die starken Seiten. 

 

Nutzen Sie die Interessen, Vorlieben und Stärken Ihres Kindes auch immer wieder während des Lernens oder den Hausaufgaben. Arbeitet das Kind vielleicht lieber auf dem Boden, statt am Schreibtisch zu sitzen? Braucht es vielleicht Bewegung beim Lernen? Vielleicht kann es sich viel besser auf etwas konzentrieren, wenn es die Information hört anstatt sie zu sehen. Und vertrauen Sie auch darauf, was Ihr Kind Ihnen mitteilt. Es wird sehr gut merken, was ihm gut tut und wobei es sich wohl fühlt. 

 

Und vor allem gönnen Sie sich und dem Kind immer wieder Pausen und Auszeiten vom Lernen und den Hausaufgaben. Auch, wenn nicht immer alles zu hundert Prozent erledigt ist. Lassen Sie auch mal 5 grade sein.

 

Das ist nicht immer einfach und oft müssen wir dabei über unseren eigenen Schatten springen. Es wird vielleicht einige Zeit dauern, aber nach und nach bekommen Sie und das Kind ein Gespür dafür, was dem Kind (und damit auch der Familie) gut tut und hilft.  

 

Und denken Sie immer daran: Humor und Geduld sind Kamele, mit denen man durch jede Wüste kommt!

 

 

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